Ich bin ein Büromensch aus dem Speckgürtel Stuttgarts und trage selbst einen Speckgürtel. Meine handwerklichen Fähigkeiten konzentrieren sich auf Herd und Grill. Sehr zum Spot meiner handwerklich sehr begabten Verwandschaft habe ich in über 40 Lebensjahren kaum eine Schraube gerade ins Holz gesetzt. „Die gerade Linie ist des Teufels“. Mit dieser Maxime begründete ich mein Versagen im rechten Winkel.
Mit Corona kam Testosteron
Der Lockdown war gerade 3 Tage alt geworden, als in mir die Vorstellung explodierte: „Ich brauche ein Taschenmesser. Ein selbstgebautes Taschenmesser.“
Die Recherchephase überspringe ich nun mal kurz. Es wurde ein Bausatz für ein Taschenmesser von dictum.
Pseudo-Expertise und Werkzeuge für zwei linke Hände
Fast noch besser als die Aussicht auf mein eigenes Taschenmesser war die viel näher liegende Aussicht auf einen Besuch im Eisenwarenladen in Waiblingen. Dort mit dem Senior über Eisenfeilen und Schleifpapier fachsimpeln.
Zwischenfrage: Der speckgegürtelte Typ mit dem handwerklichen Minimaltalent geht in den Eisenwarenladen zum Experten-Schnack?
Pseudo-Expertise: Das ist der wahre Genuss eines Vorhaben von dem man keine Ahnung hat.
Mein Messer machen im Home Office
Jetzt bin ich ja beruflicher Büromensch und dank Corona zum Home Office Stubentiger mutiert. Eine Werkbank oder gar Werkstatt für mein epochales Projekt habe ich nicht. Dafür einen Eiermann 2 – Schreibtisch fürs Home Office. Also fing ich an zwischen Maus, Tastatur und Papierstabel einen kleinen Bastelschraubstock von Dremel zu installieren. Zwischen den Kullis tauchten Feilen und Bandschleifpapier in Körnungen von 60 bis 400 auf. Eine Flasche Walnussöl gehört nun auch zum Bestand.
Und plötzlich riecht Scrum nach Mann
Während der stundenlangen Videokonferenzen deaktivierte ich die Kamera und den Ton, um Bandbreite zu sparen und um nebenher in Ruhe feilen, schleifen, kleben und schärfen zu können. Holz- und Damaststahlstaub türmten sich auf meiner Tischplatte. Die Finger taub und schmutzig. Dafür der Stahl blank und scharf und Überraschung: Das Messer passt auch den Nanometer genau.
Nebenbei eine sehr spannende Erfahrung. Wer sich als Stakeholder schon öfter durch einen Scrum Sprintwechsel gekämpft hat, weiß um die Längen, die so ein Tag bekommt, wenn Entwickler plötzlich über Impalas reden. Du siehst dein Budget explodieren, wirst erst nervös und dann ärgerlich und bekommst am Ende einen Anschiss von dem schmalbrüstigen Typ namens Scrum Master, dass du hier den Team-Flow versaust.
Als ich mein Messer feilte war das deutlich besser. All der Ärger über das neumodische Zeug und das Unverständnis über die Leute, die nix schaffen sondern nur reden und mir hinterher verkaufen, dass das ganz wertvolle Zeit ist, floss in den richtigen Anpressdruck meiner Feile und damit in die Form des Stahls meines Messers. Als Folge hielt ich die Klappe, das Team freute sich über einen ungestörten Sprintwechsel und ich habe nun mein Messer.
Die Männer-Mutation beim Vespern
Am Tag danach packte ich die Kinder in den Fahrradanhänger und fuhr mit ihnen zum Schildkrötentümpel bei Waiblingen. Bei bestem Wetter packten wir unsere Sachen für ein Vesper aus: Brot, Wurst, Tomaten, Käse, Gurke und mein selbstgebautes Taschenmesser.
Und dann frage Freya: „Ist das scharf?“
Und mir wuchsen Haare auf der Brust vor Männerstolz. „Natürlich ist das scharf. Papa hat das mit drei verschiedenen Diamantschleifsteinen geschärft und hinterher am Leder abgezogen.“ Und dann glitt die Klinge durch die Cocktailtomate.
